
„Ich erschoss ihn vorschriftsgemäß“
Claudia Kuretsidis-Haider: „Das Volks sitzt zu Gericht“, Österreichische Justiz und NS-Verbrechen am Beispiel der Engerau-Porzesse 1945-1954, Studien Verlag, Wien 2006
(c) Rudolf Leo: Am 15. Mai 1945, nur wenige Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erscheint der damals 40-jährige Fleischhauer und Selcher Rudolf Kronberger aus eigenem Antrieb bei der Staatspolizei in Wien, um eine Zeugenaussage zu machen. Diese Aussage wird den ersten und größten Prozesskomplex gegen NS-Täter in der Nachkriegsgeschichte auslösen. Kronberger ist, heute würde man sagen, „situationselastisch“. Im Austrofaschismus denunziert er illegale Nationalsozialisten. Nach dem „Anschluss“ tritt er der NSDAP bei und wird SA-Scharführer. Jetzt, nach dem Ende des Nationalsozialismus, versucht er erneut die Seite zu wechseln. Kronberger tritt die Flucht nach vorne an und erstattet bei der Staatspolizei „Anzeige gegen Angehörige der SA im Judenlager Engerau“. Er bietet sich als Kronzeuge an und erklärt, dass er selbst von Herbst 1944 bis zum 29. März 1945 „im Judenlager Engerau“ als SA-Scharführer „in besonderer Verwendung“ eingesetzt war. Kronberger gibt zu Protokoll:
„Als die SA das Judenlager in Engerau errichtete, wurden ca. 2000 Juden (ungarische) in das genannte Lager aufgenommen. An den Juden wurden folgende Gewalttaten verübt: Anlässlich des Abmarsches Ende März 1945 aus dem Lager Richtung nach Deutsch Altenburg wurde ich als Wegführer bestimmt und ging an der Spitze des Zuges. Hinter mir fand eine wüste Schießerei statt, bei der 102 Juden den Tod fanden. An dieser Erschießung nahmen teil: SA-Sturmführer Falkner, SA Truppenführer Neunteufel Wilhelm […], Marine-SA-Mann Acher, SA-Oberscharführer Karkofsky [richtig: Kacovsky].
Ich war selbst Zeuge dieser grundlosen Erschießung und werde mich zwecks Ausfindungsmachung noch persönlich bemühen und das von mir gefundene Anschriftenmaterial bekannt geben.“
Am stärksten belastet Kronberger den 34-jährigen Maler und Anstreicher, SA-Truppenführer Wilhelm Neunteufel. Mehrere Angehörige der SA-Wachmannschaft werden in den folgenden Tagen verhaftet. Die Abteilung IV des Polizeikommissariates Landstraße in der Rüdengasse beginnt mit der Einvernahme der Verdächtigen. Alle bestätigen im Wesentlichen die Angaben, belasten allerdings auch Kronberger bezüglich der Ermordung von ungarischen Juden.
Der 49-jährige Koch Alois Frank sieht keine Veranlassung, seine Taten zu verschweigen. Handelten aus seiner Sicht doch alle Beteiligten „nur auf Befehl“.
Frank gibt zu Protokoll:
„Am 20. oder 21. Feber stand ich auf Posten und in der Nacht versuchte ein Jude zu flüchten. Ich erschoss ihn vorschriftsgemäß. Am nächsten Tag sah ich, dass er von rückwärts durch die Brust getroffen war.“
Aufgrund der massiven Anschuldigungen von Neunteufel und Frank wird Kronberger im Frühjahr 1945 schließlich noch einmal von der Polizei einvernommen. Kronberger versucht von seinen Taten abzulenken und gibt die Namen weiterer Täter preis. Er erkennt bald die Aussichtslosigkeit seiner Situation und kann nur schwer verstehen, warum nun auch er, der „Kronzeuge“, in Haft genommen wird.
Das Lager Engerau
Im November und Dezember 1944 kommen rund 2.000 ungarische Juden mit einem Transport aus Budapest am Bahnhof von Engerau (Petržalka, Bratislava) an. Sie werden in alten Baracken, Bauernhöfen, Scheunen, Ställen und Kellern der Ortsbevölkerung untergebracht und müssen Schanzarbeiten leisten. Die ungarischen Juden werden in den letzten Monaten der NS-Herrschaft gezwungen, den so genannten „Südostwall“ gegen die heranrückende Sowjetarmee zu bauen. Ein militärstrategischer Unsinn, da er gegen die Panzer der Sowjets keinen Schutz bieten konnte. Das Lager Engerau besteht aus mehreren Teillagern, die von großteils aus Wien stammenden SA-Männern sowie von „Politischen Leitern“ bewacht werden. Die Lebensumstände im Lager Engerau sind katastrophal. Täglich sterben mehrere Häftlinge an den menschenunwürdigen Bedingungen, an Hunger, Kälte und Entkräftung. Andere werden von Angehörigen der Wachmannschaft „auf der Flucht erschossen“, erschlagen, oder sind zur „Liquidation“ freigegeben worden, wofür eigens einige SA-Männer „zur besonderen Verwendung“ abgestellt werden. Am 29. März 1945 wird das Lager Engerau evakuiert. Der Marsch der Gefangenen führte über Wolfsthal und Hainburg nach Bad Deutsch-Altenburg. Dabei erschießen SA-Männer an die hundert Personen.
Der Prozess
Ende Mai 1945 verhaftet die Polizei auch den 43-jährigen Sattlergehilfen Konrad Polinovsky. Aus den Gerichtsakten geht nicht hervor, wer ihn belastet. Bereits im Sommer 1945 findet im Landesgericht Wien der Prozess gegen die vier ehemaligen SA-Männer statt. Ihnen wird die Ermordung von ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern vorgeworfen. Die Angeklagten stehen im August 1945 vor einem österreichischen Gericht. Die Alliierten beobachten den Prozess aufmerksam.
Rudolf Kronberger
Rudolf Kronberger wird am 22. März 1905 in Ferschnitz, Bezirk Melk, in Niederösterreich geboren. Er besucht vier Klassen der Volksschule und verbringt nach eigenen Angaben eine unglückliche Jugend. Im fünften Lebensjahr verliert er seine Mutter, der Vater heiratet noch einmal. Seine zweite Frau bringt zwei Kinder in die neue Ehe. Kronberger wird als Kind bei einem Bauern untergebracht und muss als Knecht arbeiten. Später erlernt er den Beruf als Fleischhauer und Selcher. 1924 kommt er nach Wien und arbeitet in einer Fleischhauerei in der Fasangasse. 1935 wechselt er die Arbeitsstelle und arbeitet in der jüdischen Großschlachterei Brüder Reinharz im 15. Bezirk. In dieser Firma kommt er mit illegalen Nationalsozialisten in Kontakt, die er bei seinem Chef denunziert. Zwölf Nationalsozialisten werden in der Folge von der Kriminalpolizei festgenommen. Nach dem „Anschluss“ verliert Kronberger die Arbeit in der Großschlachterei. Im Herbst 1938 tritt er der NSDAP bei und wird SA-Scharführer. Ab Herbst 1939 arbeitet er als Eisenbahner bei der Reichsbahn. Auch diesen Posten verliert er wieder. Am 8. November 1944 wird der SA-Scharführer einberufen und zur Bewachungsmannschaft nach Engerau abkommandiert.
Alois Frank
Alois Frank wird am 22. Jänner 1896 in Wien geboren. Frank absolviert die Volksschule, die Bürgerschule und die Gewerbeschule zum Koch. Der arbeitslose Koch tritt bereits 1935 der SA Standarte 24 bei. Er erhofft sich durch den Beitritt Arbeit zu finden. Seine Tätigkeit in der Illegalität, so seine Angaben, beschränkt sich auf das Streuen von Flugblättern und das Beschmieren mit Hakenkreuzen. Im Oktober 1935 wird Frank festgenommen und zu sechs Wochen Haft verurteilt. Nach dem „Anschluss“ wird er wieder aktiver Nationalsozialist. Seine Mitgliedsnummer ist eine für die „illegalen“ reservierte 6 Millionen-Nummer. Er wird Blockleiter der Ortsgruppe Kübeckgasse im 3. Bezirk. Im April 1944 schafft er es zum Scharführer der SA. Am 4. Jänner 1945 kommt er nach Engerau zum Bauabschnitt Kittsee.
Wilhelm Neunteufel
Wilhelm Neunteufel wird am 7. Oktober 1901 in Wien geboren. Er beginnt zunächst als gelernter Koch und Zuckerbäcker zu arbeiten, danach als Maler und Anstreicher. 1931 absolviert er die Meisterprüfung und eröffnet in der Zentagasse 3 in Wien 5 ein Malergeschäft. Das Geschäft läuft die ersten Jahre gut. 1934 ändert sich die Situation: Neunteufel steckt tief in den Schulden. Der „Anschluss“ ändert die finanzielle Situation. Neunteufel transportiert gegen Bezahlung NS-Funktionäre in Wien mit seinem Motorrad. Er tritt der NSDAP und der SA-Standarte 24 bei und erhält dadurch Hilfe für seinen angeschlagenen Malerbetrieb. Bis 1940 beschäftigt Neunteufel neun Mitarbeiter in seinem Geschäft. Im März 1940 wird er einberufen. Aufgrund einer Kriegsverletzung ist Neunteufel nachtblind und kann nur mehr bedingt zum Dienst eingezogen werden. 1944 wird Neunteufel nach Engerau abkommandiert.
Konrad Polinovsky
Konrad Polinovsky wird am 9. Juli 1902 in Wien geboren. Nach der allgemeinen Volksschule absolviert er 1916 eine Lehre als Sattler. Im Anschluss daran arbeitet er von 1919 bis 1923 als Hilfsarbeiter bei verschiedenen Wiener Firmen oder ist arbeitslos. 1924 wird Polinovsky beim Münzamt in Wien 3., angestellt. Ab 1938, so seine Angaben, gehört er der Betriebs-SA und mehreren NS-Organisationen an. Im Oktober 1944 wird er von der SA „Notdienstverpflichtet“ und nach Kittsee als Streifenposten entsandt. Anfang Dezember 1944 wird er zur Aufsicht der ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter nach Engerau versetzt.
Die Urteile
Am 17. August 1945 fällt das Volksgericht Wien seine Urteile:
Kronberger, Frank und Neunteufel werden unter anderem vom Volksgericht in Wien wegen „des Verbrechens des vollbrachten, vielfachen gemeinen Mordens“ zum Tode verurteilt und im November 1945 hingerichtet. Polinovsky wird wegen „des Verbrechens der Quälerei und Misshandlung“ zu einer achtjährigen Kerkerstrafe verurteilt. Er wird nach zwei Jahren Haft von Bundespräsident Karl Renner begnadigt und am 1.10.1949 entlassen.
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