Publikation „Das Volk sitzt zu Gericht“ online

Claudia Kuretsidis-Haider, „Das Volk sitzt zu Gericht“. Österreichische Justiz und NS-Verbrechen am Beispiel der Engerau-Prozesse 1945-1954

StudienVerlag Innsbruck-Wien-Bozen 2006, 496 Seiten, € 59.90
Reihe: Österreichische Justizgeschichte, Band 2

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Mit einer Anzeige des 40-jährigen Fleischhauers und Selchers Rudolf Kronberger aus dem 3. Wiener Gemeindebezirk begannen im Mai 1945 die umfangreichsten und am längsten andauernden gerichtlichen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte Österreichs. Sie zogen zwischen 1945 und 1954 zahlreiche Prozesse in Wien nach sich, sechs davon erhielten die Bezeichnung „Engerau-Prozesse“.

Der „Südostwall“ und die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter 1944/45 

Die Tatsache, dass österreichische Gerichte Verbrechen an ungarischen Juden, die beim „Südostwall“-Bau auf dem Gebiet der ehemaligen Ostmark Zwangsarbeit leisten mussten, nach 1945 nach österreichischen Gesetzen ahndeten, war über Jahre hinweg ein Forschungsdesiderat und ist international nach wie vor weitgehend unbekannt. Neben den Engerau-Prozessen fanden in Wien, Graz und Linz eine Reihe weiterer „Südostwallverfahren“ statt, wie beispielsweise wegen eines Massakers an ungarischen Juden im burgenländischen Rechnitz, wegen der Ermordung von ungarischen Juden in Deutsch-Schützen, sowie Prozesse wegen Verbrechen beim „Südostwall“-Bau im burgenländischen Strem. Neben Verbrechen an der österreichischen Zivilbevölkerung zu Kriegsende und Verbrechen bei der Räumung von Justizanstalten zählen die Morde beim „Südostwall“-Bau zu den so genannten „Endphaseverbrechen“, die in Österreich häufig Gegenstand von Verfahren waren.
Diese wurden von den – seitens der Provisorischen österreichischen Regierung bereits im Mai 1945 installierten – Volksgerichten auf der Grundlage eigens dafür verabschiedeter Gesetze durchgeführt.
Auf der Grundlage der Forschungstätigkeit der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz war es möglich, eine umfangreiche Arbeit über die Tätigkeit der österreichischen Volksgerichtsbarkeit anhand eines Fallbeispiels – nämlich eines Prozesskomplexes betreffend die Ahndung von Verbrechen an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern – vorzulegen. Herangezogen wurden dafür die „sechs Engerau-Prozesse“ wegen der Verbrechen, die von SA-Männern und „Politischen Leitern“ an ungarischen Juden im Zuge des „Südostwall“-Baues im Grenzort Engerau / Petržalka (bei Pressburg / Bratislava) und während des zu Kriegsende erfolgten Evakuierungsmarsches nach Deutsch-Altenburg sowie des anschließenden Schiffstransportes nach Mauthausen verübt worden waren, sowie einige damit in unmittelbarem Zusammenhang stehende Verfahren. Diese Prozesse fanden zwischen August 1945 und Juli 1954 vor dem Volksgericht Wien statt.

Ziel dieser rechts- und zeitgeschichtlichen Untersuchung war die Analyse der praktischen Tätigkeit des Volksgerichts Wien auf der Grundlage der über 8.000 Seiten umfassenden Gerichtsakten in der Strafsache Engerau, die sich über fast den gesamten Zeitraum des Bestehens der österreichischen Volkgerichtsbarkeit erstreckte. Die sechs Engerau-Prozesse wurden gegen 21 Angeklagte geführt; neun von ihnen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet – das war jedes fünfte der verhängten und jedes dritte der vollzogenen Todesurteile.

Verfahrensanalyse 1945–1954

Da der Quellenwert eines Gerichtsaktes nicht nur in der Anklageschrift, dem Hauptverhandlungsprotokoll und dem Urteil begründet ist, wird für alle Prozesse dem Gang des Verfahrens gefolgt. Intention dieser Vorgangsweise war es, die Ermittlungstätigkeit der Sicherheitsbehörden und der Staatsanwaltschaft zu dokumentieren, Änderungen im Erkenntnisinteresse des Gerichts im Laufe des Vorverfahrens aufzuzeigen, Aussagen von ZeugInnen jenen der Beschuldigten gegenüber zu stellen, zu vergleichen, welche im Vorverfahren hervorgekommenen vermutlichen Tatbestände für anklagreif erachtet wurden, Anklageschrift und Urteilsbegründung einem Vergleich zu unterziehen, die Hauptverhandlungsprotokolle hinsichtlich strafprozessrechtlicher Fragestellungen und Auseinandersetzungen zu untersuchen und schließlich den Vollzug des gefällten Urteils zu beleuchten. Auf der Grundlage der staatsanwaltschaftlichen Tagebücher war es in manchen Fällen möglich, Entscheidungsprozesse innerhalb der Staatsanwaltschaft zu rekonstruieren, die aus den Gerichtsakten nicht hervorgehen.

Der 1. Engerau-Prozess von 14. bis 17. August 1945 gegen vier Angehörige der SA-Lagerwache von Engerau war die erste Hauptverhandlung vor einem österreichischen Volksgericht und zog eine dementsprechend große öffentliche Aufmerksamkeit nach sich. Hier konnte daher aufgrund der umfassenden Zeitungsberichterstattung ein anschauliches Bild des Prozessverlaufes nachgezeichnet werden. Generell war die Frage des Umgangs mit NS-Verbrechen nicht nur in Österreich zu dieser Zeit ein öffentlich viel diskutiertes Thema, was eine historische Kontextualisierung möglich macht. In diesem Zusammenhang ist auch der zweite Engerau-Prozess von 12. bis 15. November 1945 gegen weitere fünf Bewachungsorgane zu sehen, der quasi als Fortsetzung des ersten Prozesses geführt wurde, allerdings vor dem Hintergrund des bereits eingespielten Alltags der Volksgerichtsprozesse.
Der 3. Engerau-Prozess von 16. Oktober bis 4. November 1946 war das größte Verfahren in der Strafsache Engerau und fiel in die Zeit des Höhepunkts der Volksgerichtsbarkeit in Österreich. In dieser Zeit fanden die wichtigsten, größten und spektakulärsten Prozesse statt. Aufgrund der großen Anzahl von Beschuldigten – unter den zehn Angeklagten befanden sich der für die Schanzarbeiten zuständige Unterabschnittsleiter und sein Stellvertreter sowie die beiden SA-Lagerkommandanten – und des mit elf Bänden großen Umfangs an Aktenmaterial konnte das Vorverfahren lediglich hinsichtlich der Ermittlungsgegenstände untersucht werden. Dessen Verlauf wäre auch nicht mehr rekonstruierbar gewesen, da große Teile des Aktes in Verstoß geraten sind, und offenbar nur mehr die wichtigsten Dokumente wieder hergestellt bzw. neu angelegt wurden.
Nach dem Ende des 3. Engerau-Verfahrens bemühte sich die Staatsanwaltschaft Wien vergeblich, weiteren mutmaßlichen Hauptverantwortlichen für die Verbrechen in Engerau den Prozess zu machen. Der – trotz nie durchgeführter Hauptverhandlung – als „4. Engerau-Prozess“ bezeichnete Gerichtsakt ist neben dem 3. Engerau-Prozess der von der Seitenzahl umfangreichste. Er besteht aus zahlreichen Ermittlungsverfahren, die im Laufe der Zeit ausgeschieden, in anderen Verfahren einbezogen bzw. wieder rückeinbezogen worden sind. Zudem befinden sich im Akt eine Unzahl von Abschriften der vorangegangenen Untersuchungen in der Strafsache „Engerau“. Der Zustand dieses Gerichtsaktes spiegelt quasi den Zustand der österreichischen Volksgerichtsbarkeit zu dieser Zeit wieder, die geprägt war vom Bestreben, die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen endlich abzuschließen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Wiedereingliederung ehemaliger NationalsozialistInnen in die Gesellschaft und dem Buhlen um ihre Wählerstimmen – einschließlich derjenigen der ehemaligen „Illegalen“.
1953/54 gelang noch die Verhaftung zweier weiterer tatverdächtiger SA-Männer, die schließlich im 5. und 6. Engerau-Prozess, am 12. und 13. April 1954 bzw. zwischen26. und 29. Juli 1954, vor dem Richter standen. Sie bildeten gleichsam den Schlusspunkt der österreichischen Volksgerichtsbarkeit, die nach dem Abzug der Alliierten im Dezember 1955 abgeschafft wurde.
Mit dem Ende des 6. Engerau-Prozesses fanden die Ermittlungen in der Strafsache Engerau aber noch nicht ihr Ende. Vor allem in den Akten des „4. Engerau-Prozesses“ liegen zahlreiche Dokumente aus den Jahren nach 1955, als die Volksgerichtsbarkeit bereits in die ordentliche Gerichtsbarkeit übergeleitet worden war.
Neben den seitens der Justiz so bezeichneten Engerau-Prozessen gab es auch noch einige weitere Verfahren, die – u.a. – Verbrechen im Lager Engerau zum Gegenstand hatten, aber großteils auf die Hauptprozesse keinen Bezug nahmen.

Vom Umgang mit Gerichtsakten

Neben dem Verlauf der Engerau-Prozesse im Jahrzehnt der intensivsten Ahndung von NS-Verbrechen in Österreich, nämlich bis 1955, diskutiert die Publikation auch Fragen der Methodik bei der wissenschaftlichen Arbeit mit Gerichtsakten, des historischen Hintergrundes des Lagers Engerau sowie des Umgangs der österreichischen Justiz mit den NS-Verbrechen und ihre gesetzlichen Grundlagen.

Opfer, Täter, Richter

In einem weiteren Abschnitt der Arbeit werden die „Akteure“ der Engerau-Prozesse einer näheren Betrachtung unterzogen und anhand von Biografien ausgewählter in die Verfahren involvierter Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte eine Milieustudie versucht.
Aufgrund der im Zuge der Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter und in der Hauptverhandlung erhobenen „Generalien“ der Beschuldigten war mit Hilfe der Volksgerichtsakten eine Analyse der Sozialstruktur der Täter möglich.
Die Opfer waren in den Engerau-Prozessen, wie auch in anderen Volksgerichtsprozessen, zum überwiegenden Teil nur „stumme Zeugen“. Über die Toten gibt der Gerichtsakt – wenn überhaupt – nur in Form von Exhumierungslisten, Sachverständigengutachten und Berichten über die Leichenbeschau Auskunft, die Überlebenden wurden nur in Ausnahmefällen vor Gericht als Zeugen geladen. Die Geschichte der Engerau-Prozesse ist somit fast ausschließlich eine solche aus der Sicht der Täter. Dennoch sind die Volksgerichtsakten zur Erforschung der Geschichte der Opfer eine wichtige Quelle, weil sie erste Ansatzpunkte über deren Biografie liefern können.

Die Engerau-Prozesse waren Prozesse, bei denen von Männern an Männern begangene Verbrechen von Gerichten, die sich zum überwiegenden Teil aus Männern zusammensetzten, geahndet wurden (es gab allerdings Schöffinnen; Richter, Staatsanwälte und Verteidiger waren hingegen männlichen Geschlechts). Justiz war zur Zeit der Engerau-Prozesse fast ausschließlich „männlich“. Der Gender-Aspekt spielte dennoch unübersehbar eine Rolle, wenn Frauen als Zeuginnen vor Gericht auftraten, oder wenn es um ihre Rolle als Gattinnen (denen das Gericht den „Ernährer“ nehmen wollte), als Mütter, Töchter, oder als Untergebene ging.

In der Öffentlichkeit zu wenig bekannt

Die Engerau-Prozesse stellten den größten und längsten Prozesskomplex der Geschichte der österreichischen Volksgerichtsbarkeit dar. Deshalb war die Frage naheliegend, ob und in welchem Ausmaß diese Prozesse eine Wirkung auf die Öffentlichkeit ausstrahlten. Diese Fragestellung wurde anhand der Zeitungsberichterstattung über die Prozesse und deren Niederschlag in der historiografischen Literatur diskutiert.
Hauptanliegen der Arbeit war es, einen Beitrag zur jüngeren österreichischen Justizgeschichte zu leisten, die die Tätigkeit der österreichischen Volksgerichte zur Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen bislang nicht ausreichend gewürdigt hatte.

Das Buch ist den Tausenden namentlich bekannten und unbekannten ungarischen Juden und Jüdinnen, die zu Kriegsende in Österreich ihr Leben lassen mussten, gewidmet, die Opfer der NS-Herrschaft in ihrer letzten Phase wurde.