Giuseppe Groppo – Tod am Berg
…weil wir wissen, das schlimmste ist, nicht zu wissen…
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(c) Rudolf Leo – Montag, 5. Juni 1944, es ist ein grauer, stürmischer und kalter Tag. Soldaten umstellen in der norditalienischen Gemeinde Mason das Haus der Familie Groppo. Sie sind auf der Suche nach dem 16jährigen Giuseppe Groppo. Er wird am 24. Oktober 1926 in Mason, Provinz Vicenza, Bezirksgericht Bassano del Grappa, geboren. Als 1943 deutsche Truppen Norditalien besetzen, flüchtet der junge Giuseppe in den Untergrund. Durch die Geräusche der Soldaten vorgewarnt, gelingt ihm die Flucht aus dem Fenster in den schützenden Wald. Als die Mutter Giuseppes die Soldaten Italienisch reden hört, holt sie Giuseppe wieder zurück ins Haus. Ob sie dafür unter Druck gesetzt wird, oder nicht, ist nicht gesichert. Für ihren Sohn jedenfalls mit fatalen Folgen, denn die italienischen Faschisten nehmen Giuseppe fest und liefern ihn sofort an die Nationalsozialisten aus. Noch von der Ladefläche des LKWs ruft Giuseppe seiner Mutter zu: „Mach dir keine Sorgen, ich komm wieder nach Hause!“ Giuseppe wird unmittelbar nach seiner Verhaftung von den Nationalsozialisten nach Österreich verschleppt und als Zwangsarbeiter im Kraftwerksbau in Kaprun eingesetzt. Die Mutter wird nie wieder von ihrem Sohn hören. Die Gemeinde Mason erklärt Giuseppe 1952 als „vermisst in Deutschland“. Der junge Mann ist nicht das einzige Opfer der Nationalsozialisten in der Familie Groppo: der älteste Bruder von Giuseppe, G. Battista Groppo, wird am 27. April 1945, wenige Tage vor dem Selbstmord Adolf Hitlers, von deutschen Soldaten beim Rückzug in der Nähe seines Elternhauses ermordet.
Giuseppe Groppo ist einer von 6.974 „Fremdarbeitern“, wie sie genannt werden, die 1944 im Pinzgau zur Arbeit gezwungen werden. Ohne sie würden Landwirtschaft und Bauwirtschaft zusammenbrechen, da alle Männer aus der Region an den unterschiedlichsten Fronten im Krieg eingesetzt sind. Die „Fremdarbeiter“ werden aus den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten verschleppt. Eines der größten Bauprojekte im Salzburger Pinzgau ist das Kraftwerk Kaprun. Dort werden Männer aus allen Teilen Europas unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und ihre Arbeitskraft ausgebeutet.
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Dienstag, 11. Februar 2014, es ist ein regnerischer, kalter Tag. Für meine Forschungsarbeit im Auftrag der Gemeinde Bruck an der Großglocknerstraße während des Nationalsozialismus suche ich Zeitzeugen, um ein Bild über die NS-Zeit in der Region zu erhalten. Gemeinde und Lokalzeitungen helfen mir bei der Suche nach Personen, die diese Zeit noch erlebt haben. Es gibt nicht mehr viele die noch leben. Mehrere Personen melden sich, darunter Susanne Pinn, die ihre Jugend und Kindheit in Bruck und Fusch erlebt hat. Pinn, Jahrgang 1930, eine aufgeweckte, freundliche Frau, erzählt stundenlang aus ihrem Leben. Ein Erlebnis hat sich besonders in ihr Gedächtnis geprägt. Davon träumt sie seit Jahren. Die damals 14jährige Susanne Pinn findet im Juli 1944 mit einer Freundin aus München eine Leiche im Pinzgauer Hochgebirge bei der Suche nach Alpenrosen. Das Bild vom unverletzten, jungen Mann, der friedlich inmitten von rot blühenden Alpenrosen sitzt, hat Susanne Pinn noch nach Jahrzehnten im Kopf. Neben sich einen grauen Leinensack mit seinen wenigen Habseligkeiten. Der Körper ausgemergelt vor Hunger: „Nur mehr Haut und Knochen“, wie sie es beschreibt.
Die beiden Mädchen verständigen die Gendarmerie. Susanne Pinn:
„…Im Juli 1944 bin ich mit der Münchnerin Anni Almrosen pflücken gegangen. Dann sehe ich auf einmal Schuhe. Da sitzt wer. Dann hab ich der Ullmer Anni, ich war damals 14 Jahre, gerufen. Wir haben zuerst geglaubt es ist eine Frau, weil sie so lange schwarze Haare hatte, die aus Liebeskummer da sitzt. Dann hab ich beim Näherkommen gesehen, dass nur mehr Knochen in den Schuhen drinnen sind. Daneben lag ein Leinensack. Wir sind davongelaufen und zur Reiteralm hinunter und haben es einem Jäger gesagt. Dann haben wir es der Gendarmerie in Fusch gemeldet. Ich habe später erfahren, dass es ein 19jähriger Italiener war, der aus Kaprun geflüchtet ist. Er wird die alpine Gegend nicht gekannt haben und ist offenbar erfroren. Die Gendarmen haben dem Schosser[1] vom Bäcker Anderl fünf Mark gegeben und der hat ihn dann oben eingegraben. (…) Und mich hat oft das Gewissen gedrückt, dass ich mir gedacht habe, dass seine Leute nichts von ihm wissen. Ich glaub nicht, dass die Gendarmerie es hinuntergemeldet hat. Das war ganz sicher im Juli 1944, weil, wie wir nach Hause gekommen sind, das weiß ich noch, haben sie gesagt, dass auf den Hitler ein Attentat verübt wurde…“
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Donnerstag, 13. Februar 2014, es ist ein sonniger, warmer Tag. Ich sitze am Schreibtisch und höre mir die Tonbandaufzeichnungen von Frau Pinn an. Ihre Geschichte beschäftigt nun auch mich. Jetzt habe auch ich das Bild vom toten jungen Mann inmitten der roten Alpenrosen vor Augen. Ich weiß, für den Toten am Berg, brauche ich eine zweite Quelle. Ein Toter am Berg, ja, aber dass die Leiche gleich vor Ort begraben wird, das ist für mich schwer vorstellbar; das klingt zu sehr nach „Räuberpistole“. Ich versuche es bei der damaligen Gendarmerie in Fusch. Vielleicht existiert ein Bericht der Gendarmerie über den Vorfall. Mein erstes Problem: der Gendarmerieposten Fusch ist Opfer der Schließungswelle der schwarz-blauen Bundesregierung. Der Gendarmerieposten existiert nicht mehr. Nun beginnt die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Gendarmerieprotokolle aus der Zeit des Nationalsozialismus sind entweder bereits „skartiert“, also vernichtet, oder in diversen Archiven unauffindbar gelagert. Ich versuche es in der Nachbargemeinde Bruck. Abteilungsinspektor Peter Prodinger von der Polizeistation Bruck hat mir bereits bei der Suche nach der Gendarmeriechronik in Bruck wertvolle Hilfe geleistet. Ich habe doppeltes Glück: für Historiker ist das eine Art Lottogewinn. Prodinger, früher am Posten Fusch beschäftigt, hat sich die Chronik der Gendarmerie in Fusch bei der Schließung nach Bruck mitgenommen. Und es gibt einen Bericht der Gendarmerie über den Toten am Berg vom Juli 1944. Die diensthabenden Gendarmen haben gute Arbeit geleistet. Nun habe ich Namen und Geburtsdatum des Opfers: Giuseppe Groppo, geb. am 24. Oktober 1926. Im Juli 1944, wenige Wochen nach seiner Festnahme, versucht der junge Giuseppe Groppo, schlecht ausgerüstet, hungrig und erschöpft, über die Alpen in seine Heimat zu flüchten. Mit einem schlichten Leinensack und ungeeigneter Kleidung irrt er im Gebiet zwischen Imbachhorn und Roßkar in der Nähe der Wachtbergalm (Gemeindegebiet Fusch/Bruck an der Großglocknerstraße) umher. Er unterschätzt die alpinen Gefahren und stirbt an den Folgen von Hunger und Kälte im Gebirge.
Gendarmeriebericht vom 25. Juli 1944, Gendarmerie Fusch:
„wurde zwischen Imbachhorn u. Roßkar, ca. 400 m oberhalb der Wachtbergalmhütte ein männl. Skelett aufgefunden. Dieses ist nach Freigabe durch die Behörde an der Fundstelle beerdigt worden. Nach umfangreichen Ermittlungen wurde festgestellt, daß der aufgefundene Tote mit Giuseppe Groppo, 24.10.1926 in xxxxx (Schrift unleserlich Anm. RL) – Italien geb., ident ist. Er war als ital. H.A. in Kaprun beschäftigt und ist am 17.6.44 von seiner Arbeitsstelle geflüchtet. Im Imbachhorngebiet dürfe er abgestürzt u. den Verletzungen erlegen sein.“
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Natürlich möchte ich nun wissen, ob es noch Familienangehörige Groppos in Italien gibt. Möchte, auch im Sinne der Zeitzeugin Susanne Pinn, die Familie über das Schicksal Giuseppes informieren – das Kapitel endlich, auch für mich, abschließen. Es gibt nur ein Problem: der Geburtsort Groppos ist unleserlich. Mit Hilfe von Historikerkollegen und Kurrentschriftexperten versuchen wir den Ort zu lokalisieren; vergeblich, der Ort bleibt uns ein Rätsel. Im Februar 2014 versuche ich es mit einem Aufruf auf „facebook“, ich suche Italiener, die mir bei der Recherche nach der Gemeinde helfen. Alessandra Dorigato, eine italienische Dolmetscherin, bietet mir ihre Hilfe an. Sie nimmt an, dass der Name Groppo meist in der Region um Bassano del Grappa vorkommt. Dorigato setzt sich tagelang ans Telefon, ruft bei Bürgermeistern, Gendarmen und Pfarrern an und erzählt von der Geschichte. Sie geht davon aus, dass diese am Abend bei einem Glas darüber reden werden und damit in kürzester Zeit der gesamte Ort von der Geschichte erfährt. Sie hat Recht. Nach Angabe des Meldeamtes in Mason, ist dort am 24. Oktober 1926 ein Kind mit dem Namen Giuseppe Groppo zur Welt gekommen. Er wird im Jahr 1951 von den Registern des Dorfes nach einer Volkszählung gestrichen und im Jahr 1952 als „vermisst in Deutschland“ gemeldet. Zwei seiner Brüder leben heute in Italien bzw. Australien; drei Neffen leben in Italien.
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Samstag, 1. März 2014, es ist ein schöner, sonniger Tag. Ich bin zufällig zu einem Vortrag über mein Buch „Pinzgau unterm Hakenkreuz“ in Fusch an der Großglocknerstraße eingeladen. Vor meinem Auftritt am Abend sehe ich mich, wie gewohnt, im Ort um. Besuche den Friedhof und mache mir ein Bild über die Gedenkkultur dieser Gemeinde. Neben dem Musikpavillon im Ortszentrum entdecke ich einen Gedenkstein für die „Bergopfer“ in der Region. Es sind aus Metall gefertigte Platten aus den 1970er Jahren. Darin sind dutzende Bergopfer angeführt. Ich blättere achtlos die Metallplatten durch. Bei einer dieser Platten halte ich inne: „Groppo Giuseppe, Italien, abgest. [abgestürzt Anm. RL] 25.7.1944, Imbachhorn“.
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Meine Freundin Sabine Aydt-Haßlinger übersetzt meinen Beitrag über die Geschichte von Giuseppe ins Italienische und übermittelt sie per Mail der Familie. Gemeinsam rufen wir die Familie in Mason an, erzählen den Neffen vom Schicksal ihres Onkels. Nun kommt Leben in die Geschichte. Für den Großteil der dritten Generation in der Familie ist Giuseppe unbekannt. Natürlich hat niemals eine österreichische Behörde die Familie oder die Gemeinde im Süden informiert. Für sie gilt er als „vermisst in Deutschland“. Nun will sich die Familie den Ort ansehen, wo ihr Onkel gestorben ist. Sie will Frau Pinn kennenlernen und eine Gedenkfeier in Fusch inszenieren.
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Samstag, Sonntag, 4./5. Oktober 2014, es sind strahlend schöne Herbsttage im Pinzgau. Dank der großartigen Unterstützung der Gemeinde Fusch unter Bürgermeister Hannes Schernthaner, dem Obmann des Kulturvereins „Tauriska“, Hans Leixnering, dem Kameradschaftsbundobmann Hubert Reiter und der Pfarre Fusch findet eine würdige Gedenkfeier mit Messe und Kranzniederlegung für Giuseppe statt. Aus Italien reisen neben zwei Generationen der Familie Groppo, Vertreter der Gemeinde, Vertreter der Alpinis und anderer Vereine an. Zahlreiche Fuscherinnen und Fuscher geben Giuseppe die letzte Ehre. Großer Bahnhof für den jungen Mann, exakt 70 Jahre nach seinem Tod. Masons Bürgermeister Massimo Pavan dankt den Fuscherinnen und Fuschern für ihr grenzüberschreitendes Engagement. Am Samstag davor kommt es zu einem emotionalen Treffen zwischen der Familie Groppo und Susanne Pinn. Bei der Fahrt im Auto zu Frau Pinn zeigen mir die Neffen Groppos unvermittelt ein Foto von Giuseppe. Auf dem Bild ist er zwölf oder dreizehn Jahre alt. Er schaut direkt in die Kamera. Ich bin gerührt. Jetzt hat Giuseppe endlich auch ein Gesicht. Jetzt ist der „Akt“ Groppo zu einer realen Person geworden. Fotos werden zwischen den Groppos und Frau Pinn ausgetauscht und stundenlang wird erzählt, gefragt und geweint. Groppo hat nun sein Versprechen an seine Mutter eingelöst. Das Treffen findet im Haus von Susanne Pinn statt. Frau Pinn wohnt im Saalfeldner Ortsteil Marzon. Ich weiß, es gibt keine Zufälle.
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Die Geschichte sorgt in der Region rund um Zell am See und der Provinz Bassano del Grappa für großes Aufsehen. Lokalmedien berichten in beiden Regionen ausführlich. Die Artikel werden per E-Mail zwischen Italien und Österreich ausgetauscht. Obwohl die Sprachbarrieren zwischen den handelnden Personen vorhanden sind, verstehen wir einander. Beim letzten Artikel ist ein Vermerk von einem der Neffen Giuseppes hinzugefügt: “È stato bellissimo, mi viene ancora adesso il magone, commenta Adriano“. („Es war wunderschön, ich spüre noch jetzt einen Kloß im Hals – wie wenn man weinen will, es aber zurückhält -, berichtet Adriano“).
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Samstag, 25. August 2017, es ist ein strahlend schöner Spätsommertag. Der KZ-Verband in Salzburg veranstaltet eine Gedenkwanderung für Giuseppe. Gemeinsam mit Mitgliedern der Familie Groppo (Nichele + Silvia Secondo) und Vertretern der Gemeinde Mason (Vizebürgermeister Enrico Costa, Gemeinderat Diego Rigon) und Luca Seganfreddo (Verein Pro Loco) wandern wir zur Fundstelle nahe der Wachtbergalmhütte. Es ist ein sehr berührendes Ereignis erstmals an den Ort zu gelangen, wo Giuseppe gefunden wurde.
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Lokalnachrichtenbericht aus dem italienischen Fernsehen zum Besuch bei der Fundstelle in Bruck vom August 2017. Beitrag ab Minute 9:00:
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[1] Schosser ist neben dem Hirter und dem Melcher ein Bediensteter auf einer Alm; er ist für die Sauberkeit der Alm verantwortlich